A Widmung
Dieses Märchen ist all denen gewidmet, die tagtäglich in aufopferungsvoller Tätigkeit und unter Einsatz ihrer ganzen Kraft völlig
unschuldige und harmlose Egel (Hirudinea) aufs brutalste blutrünstig abschlachten und zerstückeln.
B Das Märchen
1. Kapitel: Im Teich
Es war einmal, vor noch gar nicht allzu langer Zeit, da lebte in einem friedlichen, kleinen, sonnendurchfluteten Tümpel nahe der sogenannten
"Heinrich-Heine-Universität" Düsseldorf ein niedlicher junger Egel namens Egon.
Egon war noch viel friedlicher und natürlich auch viel
kleiner als sein Tümpel, und er liebte es, sich von der Sonne durchfluten zu lassen. Seine beste Freundin war die Kuh Katharina, die auf einem
an den Teich grenzenden Bauernhof wohnte.
Jeden Morgen, so etwa um 9 Uhr, kam Katharina zum Trinken. Und weil sie von Egons Teichwasser trinken
durfte, durfte dieser auch immer ein Bißchen von Katharinas Blut trinken. Das tat überhaupt nicht weh, weil nämlich alle Egel
über ein gutes Lokalanesthäticum verfügen, sondern kitzelte nur ein wenig, und Katharina musste dann auch immer kichern. Vor
allem aber würde Katharina länger leben, weil Egelsaugen Thrombosen vorbeugt. Und Egon brauchte natürlich das Blut, um seinen Hunger
zu stillen. Nach dem Essen schwatzten die beiden noch ein Bischen, dann ging Katharina grasen.
Egon dagegen verbrachte den Tag meist mit seinen
Freunden: Marÿke dem Molch-weibchen und Armin, der Kröte (oder bessergesagt: der Kaulquappe, denn Armin war noch keineswegs erwachsen, wurde
jedoch, da er an diese Tatsache nicht gern erinnert wurde, von den anderen schon Kröte genannt, wenn die ihn nicht gerade ärgern wollten).
Die drei hatten eine Menge Unsinn im Sinn und miteinander viel Spaß. Stunden konnten sie damit verbringen, auf einen leicht zugänglichen
Felsvorsprung zu klettern und sich von da ins Wasser zurückfallen zu lassen. Oder sie ärgerten eine Ente, indem sich Egon um deren Beine
knotete, sich mit seinen Saugnäpfen an die Anderen klebte und sie so die Ente nach unten zogen. Dann wieder spielten sie im dichten Schilf
verstecken, wühlten im schlammigen Teichboden nach Schätzchen oder schwammen um die Wette. Sehr beliebt war das Steinchenweitwerfen.
Besonders bei Egon, der in dieser Disziplin nicht zu schlagen war. Während die anderen nur ihre kleinen Ärmchen zum werfen hatten, konnte
er sich mit dem einen Saugnapf irgendwo anhängen, das Steinchen in den anderen nehmen und es mit der ganzen Kraft seines Körpers
wegschleudern. Manchmal lagen sie auch alle 3 nahe der Wasseroberfläche, ließen sich von der Sonne durchfluten und erzählten sich
Geschichten oder spielten Ratespiele. Zu diesem Zweck hatten sie sich eine besonders schöne Stelle ausgesucht, wo sie das Wasser gerade
bedeckte, die Sonne sie also besonders wärmte.
2. Kapitel: Gefangen!
Eines Tages nun lag unser Egon genau an dieser Stelle und wartete auf seine Freunde, die sich gerade noch etwas zu essen besorgten. Er träumte
vor sich hin und überlegte, wie er Armin gleich erschrecken oder untertauchen könnte. Schon hörte er in der Ferne die Stimmen der
anderen. Da verdeckte plötzlich etwas die Sonne. Zuerst glaubte Egon wie gewöhnlich an eine Wolke, doch da durchstieß diese "Wolke"
die Wasseroberfläche, packte ihn am ganzen Körper, und zog ihn aus dem Wasser. Jeder Versuch, sich festzusaugen war vergeblich. Er wurde in
ein Gefäß geworfen, aus dem er noch sah, wie dieses in eine finstere Tüte gesteckt wurde. Dann war alles dunkel und sollte es auch
für viele Stunden bleiben.
Viele Stunden, in denen Egon allerlei bedrohlicher Geräusche, seiner großen Angst und der Einsamkeit
ausgesetzt war folgten. Sicher hatte Egon schon Menschen gesehen, die Besitzer von Katharina und deren Kinder. Aber die, so erinnerte er sich, hatten immer
nur in den Teich geschaut. Trotzdem war er sicher, dass ihn eine Menschenhand gepackt hatte, und schließlich nahm wieder eine solche das
Glas aus der Tüte und kippte den armen Egon in einen großen Glaskasten, in dem er unsanft auf dem Boden landete.
Er schaute sich um.
Einige armselige Wasserpflanzen gammelten traurig in der Gegend herum. Dahinter entdeckte er zu seiner Überraschung eine Gruppe von dicht
gedrängt liegenden Blutegeln. Vorsichtig bewegte er sich auf sie zu.
3.Kapitel: Verfolgung und Suche
Armin und Marÿke hatten die fremden Menschen gerade noch rechtzeitig gesehen, um sich zu verstecken. Sie sahen, wie Egon gefangen wurde. Zwar hofften
sie, er würde wieder freigelassen, doch schlichen sie sich vorsichtig an die Leute heran. Diese starrten in den Teich, offenbar suchten sie noch
mehr Egel. Dann nahmen sie ihre Sachen zusammen und gingen langsam weg.
"Sie nehmen ihn mit!" weinte Armin die Kröte. "Den sehen wir nie
wieder!"
"Wir müssen hinterher!" rief Marÿke, "wir müssen ihn einfach irgendwie befreien."
"Aber ich kann doch nicht aus dem Wasser
heraus." jammerte Armin. Marÿke war schon ans Ufer geklettert:
"Jetzt kannst Du beweisen, daß du schon eine echte Kröte bist. Los komm
raus!" Armin nahm alle Kraft und allen Mut zusammen schob sich an Land und pustete seine Lungen durch. Er hustete und krächtzte, denn die waren
noch nicht ganz fertig, aber es ging. Dann bewegte er sich, fast mehr mit dem Schwanz schiebend als mit seinen noch stummeligen Beinchen
hüpfend, hinter der Molchin und den Menschen her.
So kamen sie zu einem bunten Metallkasten, an dem die Menschen Löcher aufmachten und erst
ihre Sachen und dann sich selbst hineinwarfen. Der Kasten heulte auf und fing an wegzurollen.
Armin überlegte zum Glück nicht lange. Mit
letzter Kraft sprang er auf ein paar herunterhängende Drähte, Marÿke ergriff seinen Schwanz und kletterte hinterher. Dann hielten sie sich
krampfhaft fest, denn der Wagen hatte schon eine gefährliche Geschwindigkeit erreicht.
Nach einer Zeit, die ihnen sehr lang vorkam, hielt das Gefährt, und die Leute stiegen aus. Die Tüte mit Egon nahmen sie mit. Armin und
Marÿke ließen sich fallen und sahen, wie die Menschen in der Tür eines großen Gebäudes, größer als 10
Bauernhöfe, verschwanden.
"Ich kann einfach nicht mehr", stöhnte Armin. "Es gibt hier Wasser, das spüre ich. Komm, wir ruhen uns
erstmal aus." Nach kurzer Zeit hatten sie eine Art Teich gefunden. Der Boden war hart, und auch sonst war es längst nicht so schön, wie
zuhause. Aber das war jetzt egal. Kaum hatten sie sich im Wasser hingelegt, schliefen sie auch schon ein.
Als sie sich genug ausgeruht hatten, gingen
sie zurück zu der Tür und krochen darunter hindurch. Armin kannte überhaupt keine Häuser, Marÿke war schon einmal im Bauernhof
bei ihrem Teich gewesen. Doch dieses Gebäude erschien auch ihr riesig. Endlos erschienen die Durchsuchungen der vielen, vielen Räume, und
sie mußten steile Stufen überwinden, um auch in höhere Stockwerke zu kommen. Wenn sie Menschen bemerkten, was leider sehr oft
geschah, versteckten sie sich irgendwo. Zum Glück trafen sie von Zeit zu Zeit auf Gefäße mit Wasser, in denen sie sich ausruhen
konnten.
So vergingen viele Tage, und die Hoffnung, Egon jemals wiederzufinden wurde immer kleiner; der Gedanke, aufzugeben drängte sich ihnen
auf.
4. Kapitel: Die große Gefahr
Egon hatte inzwischen die anderen Egel in seinem Gefäß zwar näher kennen, jedoch nicht unbedingt schätzen gelernt. Dabei waren
die keineswegs unsympathisch, man konnte sogar ganz nett mit ihnen plaudern, und Egon hörte interessiert zu, wenn sie etwas über den Ort
erzählten, an dem er jetzt war. Aber wenn er etwas von seinem Teich erzählen wollte, krochen sie weg. Und sie schienen sich überhaupt
nicht für irgendwelche Späße zu interessieren. Sie erzählten auch nicht alles, an manchen Stellen hörten ihre Geschichten
plötzlich auf, und wenn Egon weiterfragte, wichen sie aus. Kurz - mit den Egeln stimmte etwas nicht.
So war es denn sehr langweilig für
Egon. Das galt auch fürs Fressen, ihr Blut mussten die Egel aus unpersöhnlichen Plastiktüten saugen, Egon vermisste seine
Freundin Katharina. Natürlich vermisste er auch seine anderen Freunde, seinen Teich und die warme Sonne. Bald lag er genauso telnahmslos
herum wie die anderen und dachte an schönere Zeiten.
Da fasste plötzlich eine Menschenhand ins Wasser. Egon zuckte weg, da hatte die
Hand auch schon einen anderen Egel weggenommen. Egon meint Worte des Bedauerns und Mitleids zu hören.
"Was ist denn mit dem?" fragte er. Keiner
wollte ihm antworten. Nach zwei Stunden wurde der Egel ins Wasser zurückgeworfen. Er schrie und wand sich vor Schmerzen, ab und zu stöhnte
er "...Nerven herausgerissen...", ansonsten war er nicht zu verstehen. Nach weiteren zwei Stunden wurde er wieder herausgenommen, er kam nie wieder.
Von nun an versteckte sich Egon möglichst hinter einem Stein oder etwas ähnlichem. Einmal kam einer der anderen zu ihm.
"Nun weißt du
es also", sagte er. "Früher oder später geht es uns allen so. Wir verstecken uns nicht, weil es keinen Zweck hat. Trotzdem haben wir immer
Angst, also sicher keine Lust auf Späße. Und die Geschichten von schönen Tümpeln und Teichen ... die kennen wir von unseren
Vorfahren, aber wir möchten sie nicht hören, hier gibt es keine Hoffnung darauf, den Glasdeckel, der verhintert, daß wir
herauskriechen, kennst du ja selber. Ab und zu kommt ein neuer wie du..."
Egon hatte so aufmerksam zugehört, dass er nicht merkte, wie der
Glasdeckel gehoben wurde. Schon hielten zwei Hände ihn und den Erzähler fest gepackt. In einem Glas ohne Wasser wurden sie sofort
bewußtlos.
Als Egon wieder zu sich kam war das, was er sah, so schrecklich, daß er fast wieder ohnmächtig geworden wäre. Der
mit ihm ergriffene Egel lag neben ihm auf einem Tisch, aufgeschnitten von oben bis unten und blutüberströmt. Einige der Nerven waren
herausgeschnitten, und der so grausam Verstümmelte war nicht etwa tot, sondern erwachte ebenfalls gerade aus der Narkose. Er begann laut zu
schreien, doch ein von Menschenhand geführtes Messer schnitt ungerührt ein weiteres Ganglion aus ihm heraus.
Egon hatte sich noch nicht von
seinem Schock erholt, da packte die Hand wieder ihn selbst. Über ihm erschien das runde Gesicht einer jungen Frau - diesen Anblick würde er
wohl nie mehr vergessen können - und schon drang das Messer in seine Haut ein. Da schrie die Frau plötzlich laut auf.
5. Kapitel: Flucht
Wohl zum hundertsten Mal hatte sich Armin unter einer Tür durchgezwängt. Schnell wollte er wieder zurück, denn im Raum befand sich ein
gefährlich aussehender Mensch. Da erkannte er Egons Schrei voller Todesangst und sprang, ohne einen Moment zu zögern, der Frau mit voller
Wucht und offenen Hautdrüsen in den Nacken. Fast im selben Moment war ihr Marÿke ins Hosenbein gekrochen und hatte sie kräftig in die Wade
gebissen. Die Frau ließ das Messer fallen, und Egon rollte sich über die Tischkante, sodaß er zu Boden fiel. Schnell sprangen die
beiden anderen zu ihm und zerrten ihn unter der Tür durch. Die Frau war viel zu erschrocken und überrascht, um nach ihnen zu suchen, aber
die drei hielten nicht an, bis sie aus dem Gebäude und in dem Steintümpel waren, in dem Armin und Marÿke in der ersten Nacht geschlafen
hatten.
Egon schien kaum verletzt zu sein. Nach einer langen Erholungspause erzählten sie sich gegenseitig, was sie erlebt hatten. Da sagte Egon
plötzlich: "Ich will nach Hause!"
"Das werden wir wohl nie wiedersehen." befürchtete Marÿke. Doch durch seinen Kröteninstinkt
wusste Armin, in welche Richtung sie gehen mussten, und so machten sie sich schließlich auf den Weg.
Viele Tage waren sie unterwegs,
und vielen Gefahren waren sie ausgesetzt - dreimal trockneten sie beinahe aus, zweimal wurden sie fast von einem Bus und einmal von einer
Straßenbahn überfahren. Hunden und Katzen konnten sie oft nur mit knapper Not entkommen. Das schlimmste aber war der Anblick, der sich
ihnen bot, als sie schließlich heim kamen: Der Tümpel und sogar das Gebüsch, welches immer danebengestanden hatte, waren
verschwunden.
Nur eine Blechwanne stand da. Aber Armin war sich ganz sicher: von hier waren sie gekommen! Und richtig! Am Abend kam Katharina die Kuh
zu ihnen. Sie erzählte ihnen, daß der Bauer Teich und Gebüsch beseitigt hatte, um noch mehr Heu ernten zu können, und daß
sie selbst auch keine Lust hätte, länger in dieser Einöde zu bleiben. Seither zieht Katharina, die Kuh mit Egon, dem Egel, Marÿke, dem
Molch und Armin, der Kröte umher auf der Suche nach einem schönen, neuen Zuhause. Und wenn Du einen kleinen Teich im Garten hast - wer
weiß, vielleicht kommen sie eines Tages dorthin und bleiben!
C. Moral
Nichts ist so furchtbar wie ein "happy-ending"!